Die Geschichte der Orgel - Teil 2

Anekdoten und Geschichten um die Königin der Instrumente

Die Orgel kommt ins Abendland
Im Jahre 757 schenkte der byzantinische Kaiser Konstantin V. (714 - 775) dem fränkischen König Pippin dem Kleinen (741 - 775) eine Pfeifenorgel. So kam das Instrument erneut in den Westen, nachdem sie in der Völkerwanderungszeit als Bestandteil der heidnisch-römischen Kultur verpönt und vergessen worden war. Wie es zu dieser Schenkung kam, die schließlich den Anfang der europäischen Orgelgeschichte setzte, klingt wie ein Krimi, ist aber in allen Chroniken bezeugt und daher ein spannendes, aber reales Kapitel frühmittelalterlicher Geschichte.
In Konstantinopel gab es einen theologischen Streit darüber, ob Bilder im religiösen Leben Platz haben sollten oder ob sie als Götzen ("Du sollst dir kein Bildnis machen") abzulehnen seien. Vielleicht ist mit "kein Bild machen" ganz einfach gemeint, daß wir uns nicht anmaßen sollen, Gott in irgendeine Schublade zu zwängen? Die Menschen damals jedenfalls liebten Ikonen und wehrten sich 726 in Straßenschlachten gegen eine kaiserliche Bilderräumung. "Der Mensch ist nach dem Bild und Gleichnis Gottes erschaffen, deshalb liegt in der Kunst, Bilder zu machen, etwas Göttliches," argumentierte etwa der Kirchenvater Theodoros von Studios.
Während der Osten über solche Fragen sinnierte, mußte sich der Westen gegen die Zerstörung durch Eindringlinge wehren: Die Langobarden, ein vagabundierendes Volk, das 751 Ravenna erobert hatte, bedrohte Rom. Papst Zacharias (741 - 752) suchte Hilfe bei den Franken und krönte ihren Fürsten, Pippin den Kleinen, zum König. Eine solche Ehre war noch keinem Merowingerfürsten widerfahren, und Pippin bedankte sich großzügig. Er sandte umgehend Truppen nach Italien, rettete Rom und eroberte Ravenna zurück. Doch statt Ravenna und das Herzogtum Rom ihrem ursprünglichen Besitzer, dem Staat Ostrom und seinem Kaiser Konstantin V. zurückzugeben, schenkte Pippin diese Gebiete kurzerhand dem Papst. So wurde Papst Stephan II. der erste päpstliche Landbesitzer; der Kirchenstaat war angelegt.
Interessanterweise reagierte der oströmische (byzantinische) Kaiser Konstantin alles andere als machtpolitisch oder persönlich gekränkt. Anstatt militärisch zu dreinzuschlagen, suchte er nun seinerseits Hilfe bei Pippin. Zwischen 756 und 769 sandte er drei Gesandtschaften nach Aachen, die Pippins Unterstützung für seine Sicht des Bilderstreites gewinnen sollten. Konstantin war "Ikonoklast", d.h. er war gegen die Bilderverehrung, und hatte nebst dem Volk mit seiner Bilderfrömmigkeit auch die Philosophen und Theologen gegen sich. Die Unterstützung durch Pippin scheint ihm so wichtig gewesen zu sein, daß er seine Gesandten mit prunkvollen Geschenken ausrüstete, jene von 757 mit einer Pfeifenorgel.

Wirtschaftsspionage am kaiserlichen Hof?
Der berühmte St. Galler Mönch Notker der Stammler (840 - 912) war nicht nur als Musiker und religiöser Dichter tätig, sondern hat auch Geschichtswerke hinterlassen: Um 881 entstand die "Fortsetzung der fränkischen Königschronik des Erchanbert" und zwischen 883 und 887 die "Gesta Karoli Magni", eine Darstellung der Taten des Frankenkönigs Karls des Großen (724 - 814). Über das Jahr 812 berichtet er, es sei eine Gesandtschaft aus Konstantinopel an den Hof nach Aachen gekommen. Um dem fränkischen König, der im Jahr 800 vom Papst zum "Heiligen römischen Kaiser deutscher Nation" gekrönt worden war, auch wirklich kaiserliche Ehren erbieten zu können, brachten die byzantinischen Gesandten eine Kaiserhuldigung dar, wie sie es gewohnt waren, eine so genannte "Akklamation", und führten zu diesem Zweck eine Pfeifenorgel mit sich. Die Handwerker Karls des Großen sollen heimlich versucht haben, das Orgelwerk zu kopieren, um es nach der Abreise der Gesandten nachzubauen. Ob das gelungen ist, ist nicht bekannt. Wertvoll sind aber für uns die Einzelheiten, wie sie Notker der Stammler beschreibt. Danach handelte es sich um ein Instrument mit mehreren Bälgen aus starkem Leder, metallenem Windkasten, Pfeifen aus Kupfer oder Bronze und drei verschiedenen Registern.
Orgeln mit Bälgen, wie sie die Schmiede verwendeten, waren schon in der Antike entwickelt worden und haben sich allmählich gegen die zwar lauter klingende, doch schwere und nur mühsam zu transportierende Wasserorgel durchgesetzt. Der Name "Hydraulos", "Hydraulis" oder "Hydraulae", der eigentlich "Wasseraulos" bedeutet und streng genommen die antike Arenen- und Palastorgel bezeichnet, wurde auf die kleinere Balgorgel übertragen. Von "organa hydraulica" schreibt 454 in einem Brief Sidonius Apollinaris (430 - 479), der spätere Bischof von Clermont. Der Text gibt leider keinen Hinweis, ob er hierbei an eine "echte" Wasserorgel oder eine Balgorgel dachte.
Der weströmische Senator und Geschichtsschreiber Flavius Magnus Aurelius Cassiodorus (ca. 490 - 580) kennt nur noch die Balgorgel; er spricht von "organa", wenn er die Orgel meint, und nennt ausdrücklich den Wind der Bälge ("flatus follium"). In einer mittelalterlichen Buchmalerei ist der Begriff "organa", der auch ganz allgemein "Musikinstrumente" meint, als Pfeifenorgel gedeutet: Die in Babylon gefangenen Kinder Gottes hängen aus Trauer ihre Instrumente (wahrscheinlich Harfen) an die (Weiden-) Bäume, heißt es im 137. Psalm. Im lateinischen Bibeltext steht "organa" und der Künstler stellt ganz selbstverständlich eine Pfeifenorgel dar, die in die Weiden gehängt wird.

Die Anfänge des deutschen Orgelbaus
Ludwig dem Frommen, dem dritten Sohn Karls des Großen, kam im Jahre 826 zu Ohren, ein Priester namens Georg könne Orgeln bauen. Er ließ diesen sofort in seine Dienste nehmen und stellte ihm Geld und Material in reichem Maße zur Verfügung. Jener Priester stammte aus Venedig, der Handelsstadt, die am lebhaftesten Handel trieb zwischen Ost und West. Es ist daher anzunehmen, daß dieser Georg sein Handwerk in Konstantinopel gelernt hat, zumal er versprach, das Instrument "nach Art der Griechen" (organum more Graecorum) zu bauen.
Der Westen war ungeheuer stolz über diese Konstantinopel entrissene Rarität. Ermoldus Nigellus (Ermold der Schwarze), Dichter und Vertrauter des Königs Pippin I. von Aquitanien, dichtete zu Ehren Ludwigs des Frommen: "Auch die Orgel, welche in Frankreich gänzlich unbekannt war, auf welche sich das stolze griechische Reich allzusehr etwas einbildete, und um deretwillen Konstantinopel wähnte, Dir, Ludwig, überlegen zu sein: Jetzt hat sie auch der Palast zu Aachen." Und der Abt von Reichenau, Walahfrid Strabo (808 - 849) legt nach: Die süße Melodie des Orgelspiels habe nun auch in Aachen einer Frau die Sinne geraubt, so daß sie schließlich vor Wonne gestorben sei! Es ist nicht weiter verwunderlich, daß der erste abendländische Orgelbauer ein Priester war. Denn nur Angehörige des geistlichen Standes hatten damals das nötige technische Wissen, um einen solch komplizierten Apparat wie die Orgel zu verstehen, und das handwerkliche Können, um beispielsweise Metallpfeifen zu konstruieren und klanglich befriedigend aufeinander abzustimmen. So erklärt sich auch, warum die Pfeifenorgel in die Kirche gekommen ist und zum allgemein gebräuchlichen Gottesdienst-Instrument geworden ist: Der Priester Georg wird sein Können an Schüler weitergegeben haben, die wie er Priester oder Mönche waren. Diese Schüler und ihre Nachfolger haben dann den Wunsch verspürt, ihre kostbaren Instrumente in der Kirche aufzustellen und Musik erklingen zu lassen zu Ehren Gottes.

Die Orgel wird zum Kircheninstrument
Um 1000 hatten fast alle Kirchen mit Bischofssitz Orgeln. Ab dem 15. Jhdt. wurden entscheidende Verbesserungen realisiert. Gegen Ende und Anfang des 16. Jhdts. bildeten sich die Grundstrukturen, wie sie auch heute noch im Orgelbau gültig sind. In der Folgezeit wurden klare Stilkriterien herausgearbeitet, die sich an der jeweiligen Landschaft und deren Kulturgeschichte und musikalischen Anforderungen orientieren. Ab dem 19. Jhdt. wurden die ersten raumfüllenden Orgeln für Kathedralen und Konzertsäle gebaut, einhergehend mit technischen Entwicklungen unter Verwendung der Pneumatik und Elektrizität. Zu Beginn des 20. Jhdts. erfolgte mit der sogenannten Orgelreform eine Rückbesinnung auf die Hochblüte im Früh- und Hochbarock und auf die Musik Johann Sebastian Bachs. Ein bedeutender Verfechter dieser Ideen war der "Arzt von Lambarene" Albert Schweitzer. Man versuchte in die damals allgemein übliche Bauweise der spätromantischen Orgel barocke Elemente einzugliedern, um polyphone Musik besser darstellen zu können. Aktuell wird der romantisch-sinfonische Orgelbau des 19. Jhdts. wieder positiver bewertet, was wohl zu einer Reform der Reform führen wird.
Obwohl die "Königin der Instrumente" über die Jahrhunderte hinweg die Menschen mit ihrem musikalischen Regiment begeisterte, oder vielleicht gerade deshalb, hatte sie es schwer, sich als Kircheninstrument durchzusetzen: Vielen Kirchenvätern war sie verpönt; sie galt als heidnischer Luxusartikel und wurde deshalb abgelehnt. Die Sinnlichkeit ihrer Musik wurde beargwöhnt; Orgelmusik war zu wenig geistig, zu wenig fromm. Kein Papst, kein Konzil hat je die Einführung des Instruments im Gottesdienst beschlossen!

Der Papst in Regensburg
Papst Benedikt XVI. sprach allerdings bei der Orgeleinweihung in der alten Kapelle Regensburg am 13. Sept. 2006 unter anderem folgende Worte: " In der Liturgie-Konstitution des II. Vaticanums (Sacrosanctum Concilium) wird verdeutlicht, daß "der mit dem Wort verbundene gottesdienstliche Gesang ein notwendiger und integrierender Bestandteil der feierlichen Liturgie ist". Das bedeutet, daß Musik und Gesang mehr sind als eine Zierde des Gottesdienstes: Sie gehören zum Vollzug der Liturgie, ja, sind selbst Liturgie. Feierliche Kirchenmusik mit Chor, Orgel, Orchester und Volksgesang ist also keine die Liturgie umrahmende und verschönernde Zutat, sondern eine wichtige Weise tätiger Teilnahme am gottesdienstlichen Geschehen.
Die Pfeifenorgel wird seit alters und zu Recht als die Königin der Instrumente bezeichnet, weil sie alle Töne der Schöpfung aufnimmt und die Fülle des menschlichen Empfindens von der Freude bis zur Traurigkeit, vom Lob bis zur Klage zum Schwingen bringt. Darüber hinaus weist sie, wie alle gute Musik, über das Menschliche hinaus auf das Göttliche hin. Die Vielfalt ihrer Klangfarben, vom Leisen bis zum überwältigenden Fortissimo, erhebt sie über alle anderen Instrumente. Alle Bereiche des menschlichen Seins kann sie zum Klingen bringen. Die vielfältigen Möglichkeiten der Orgel mögen uns irgendwie an die Unbegrenztheit und Herrlichkeit Gottes erinnern.
Im Psalm 150 werden Hörner und Flöten, Harfen und Zithern, Zimbeln und Pauken genannt; all diese Instrumente sollen zum Lob des dreifaltigen Gottes beitragen. In einer Orgel müssen die vielen Pfeifen und die Register eine Einheit bilden. Klemmt es hier oder dort, ist eine Pfeife verstimmt, dann ist dies zunächst vielleicht nur für ein geübtes Ohr vernehmbar. Sind mehrere Pfeifen nicht mehr richtig gestimmt, gibt es Disharmonien, und es wird unerträglich. Das ist ein Bild für unsere Gemeinschaft in der Kirche. Wie in der Orgel eine berufene Hand immer wieder die Disharmonien zum rechten Klang vereinen muß, so müssen wir auch in der Kirche in der Vielfalt der Gaben und der Charismen immer neu durch die Gemeinschaft des Glaubens den Einklang im Lob Gottes und in der geschwisterlichen Liebe finden. Je mehr wir uns durch die Liturgie in Christus verwandeln lassen, um so mehr werden wir fähig sein, auch die Welt zu verwandeln, indem wir die Güte, die Barmherzigkeit und Menschenfreundlichkeit Christi ausstrahlen."
So hat die Orgel schließlich doch noch den päpstlichen Segen erhalten!

Quellen:
Friedrich Jakob, "Die Orgel" Verlag Hallwag/Schott
Heinrich Hüschen, "Notker Balbulus"
Wikipedia, die freie Internet-Enzyklopädie


zurück zum 1. Teil der Orgel-Geschichte
 
Orgelgeschichte als pdf-Datei downloaden (53 kB)
 
Startseite
Startseite