Die Geschichte der Orgel - Teil 1

Anekdoten und Geschichten um die Königin der Instrumente

Steinzeitmusiker im Lonetal
Die Liebe des Menschen zur Musik ist uralt. Schon Steinzeitmenschen spielten Flöte. Die Beweise dafür finden sich quasi fast direkt vor unserer Haustür: Im Achtal, 20 Kilometer westlich von Ulm, fanden Archäologen in der Höhle "Hohle Fels" eine nahezu vollständige Knochenflöte und einzelne Fragmente dreier Elfenbeinflöten, welche älter als 35.000 Jahre sind! In der Höhle Vogelherd im Lonetal, 25 Kilometer nordwestlich von Ulm, haben sie ein weiteres einzelnes Bruchstück einer weiteren Elfenbeinflöte entdeckt. Diese bedeutenden Funde, bei denen es sich um die bisher ältesten Belege für Musikinstrumente handelt, machen deutlich, daß Musik eine bedeutende Rolle bereits im Leben der Aurignacienmenschen im Ach- und Lonetal in Südwest- deutschland gespielt hat. Bei großzügiger Auslegung könnte man also sagen, daß die Geschichte der Orgel bereits im Jungpaläolithikum beginnt.

Ktesibios erfindet die Wasserorgel
Der Orgelbau blickt auf eine weit über 2000-jährige Geschichte zurück und gehört damit zu einem der traditionsreichsten Zweige im Kunsthandwerk. Sind doch die drei Grundelemente der Pfeifenorgel von ihrer Erfindung im hellenistischen Alexandria bis heute im Prinzip die gleichen geblieben: Die Tonerzeugung durch Pfeifen, das Herstellen eines regulierbaren Winddrucks mittels Blasbälgen bzw. Pumpen und die mechanische Steuerung der Windzufuhr. Die Pfeifen wurden aus Flöten entwickelt und so schließt sich der Kreis zu den in unserer Heimat vor 35 Jahrtausenden lebenden Steinzeitmenschen!
Man sagt, es wäre der im 3. Jhdt. v. Chr. in Alexandria (Ägypten) lebende Techniker, Erfinder und Mathematiker Ktesibios gewesen, welcher im Jahre 246 vor Christus den Prototyp aller Orgeln erfunden hätte. Bei seiner Wasserorgel (organon hydraulikon) wurde wie bei der Druckpumpe Luft komprimiert um Töne zu erzeugen. Auch die Feuerwehrspritze und die Wasseruhr zählen zu seinen Erfindungen.
Als Ktesibios in Alexandria lebte, regierten dort Ptolemaios I. (305-285 v. Chr.) und Ptolemaios II. (285-246 v. Chr.). und die Stadt befand sich bereits auf dem besten Weg, zum wirtschaftlichen, geistigen und politischen Zentrum der römisch-hellenistischen Welt zu werden, was jedoch noch einige hundert Jahre dauern sollte. Was die an einem Mündungsarm des Nils gelegene Stadt jedoch bereits war, war die größte Handelsstadt der Antike. Ob Weizen aus dem reichen Ägypten, Elfenbein und Gold aus dem südlichen Afrika, Zinn und Bernstein aus dem fernen England oder Seide und Gewürze aus Asien: Was immer die antike Welt an Luxusgütern verlange, wurde in Alexandria umgeschlagen und weitergehandelt. Später residierte die ganze spätantike, Griechisch sprechende Intelligenz in Alexandria: Philosophen, Historiker, Naturwissenschafter, Techniker, Bildhauer, Maler und Dichter, und es gab dort die größte Bibliothek des Altertums, die noch heute berühmt ist und über eine Million Schriftrollen zählte. Die Verwaltungshoheit hatten die Römer, während Griechen die kulturelle Oberschicht bildeten. Um die Alltagsarbeit kümmerten sich nordafrikanische und koptische Gewerbetreibende, unterstützt von all jenen Sklaven, die aus den Grenzgebieten des römischen Reiches importiert worden waren.
In diesem Schmelztiegel der Geschichte also, zu einer Zeit, als Pyramiden und Sphinx nur etwa halb so alt waren wie heute (!), kam dem Ingenieur Ktesibios die Idee, die griechische Doppelflöte (Aulos) so zu mechanisieren, daß man nicht nur zweistimmig, sondern auch akkordisch-mehrstimmig spielen konnte. Hierzu benötigte er 1.) einen steuerbaren Wind, 2.) unterschiedliche Tonhöhen und 3.) eine Spielmechanik.
Um den Winddruck zu erzeugen, baute er eine wasserdichte Kiste und stellte eine Schüssel umgestülpt hinein. Unter diese Schüssel konnte er nun Luft pumpen, welche durch das Gewicht des auf ihr lastenden Wassers komprimiert wurde und blasen konnte. Über diese Kiste baute er eine Art flache Kommode mit zwei Etagen. In die untere leitete er die Druckluft (sie entspricht der heutigen Windlade), in die obere stellte er eine Reihe Pfeifen nach Längen geordnet. Dazwischen ordnete er die Spielmechanik an: Wie eine Reihe kleiner Schubladen war für jede Pfeife ein Holzriegel vorhanden, der sich herausziehen ließ, um die Luft zur Pfeife freizugeben, und wieder hinein geschoben wurde, um den Ton zu beenden. Die Orgel war geboren.
Der Legende nach soll schon Pythagoras erkannt haben, daß Saiten verschiedener Länge verschiedene Tonhöhen ergeben. Wie dem auch sei: Ktesibios muß beobachtet haben, daß bei der Aulosflöte der Ton tiefer wird, wenn die Löcher abgedeckt sind und schließlich auf den Gedanken gekommen sein, jede Tonhöhe für sich als einzelne Pfeife zu bauen und das Ganze zu einer Maschine zusammenzufügen - welch geniale Leistung! Ktesibios nannte seine Erfindung "Wasser-Aulos", auf Griechisch "Hydraulos", von dem wir das Wort "hydraulisch" abgeleitet haben.
Wie war wohl der Klang dieser ersten Pfeifenorgel der Weltgeschichte? Der "Aulos" war ein Doppelrohrblattinstrument wie die moderne Oboe. Die ersten Orgeln hatten also wahrscheinlich einen kräftigen, engen, sehr direkten Klang wie unsere heutigen Zungenpfeifen-Register (also z.B. "Trompete", Krummhorn", "Schalmei"). Später nahm man flötenartige Register hinzu mit offenen und gedackten, eine Oktave tiefer tönenden Pfeifen. Von dem im ersten Jahrhundert v. Chr. lebenden römischen Architekt und Schriftsteller Marcus Vitruvius Pollio (Vitruv) kennen wir die Beschreibung eines solchen weiterentwickelten Instruments. Es enthielt bis acht Pfeifenreihen (Register), die einzeln oder wahlweise zusammen eingeschaltet werden konnten. Weil mehr Wind nötig war, hatte das Instrument jetzt zwei Kolbenpumpen. Diese wurden bereits alternierend betätigt, um den Winddruck stabil zu halten. Ein reizendes Detail bildeten die Einlaßventile: Als Gegengewicht diente ein Stück Metall in Form eines Delphins. Der Delphin war das mythologische Begleittier der Göttin Athene, der Göttin des Webens, des Handwerks und des Kunsthandwerks, der schönen Künste, der Erfindungsgabe und der Wissenschaften. Das antike Sprichwort "Wenn die Orgel spielt, springen die Delphine", ist also nicht wörtlich gemeint, sondern bezieht sich auf diese Ventile.

Olympische Orgelspiele
Auch wenn dieses Wort damals noch ungebräuchlich war: Die Pfeifenorgel muß einen wahren Boom erlebt haben, denn schon bald wurde sie als olympische Disziplin zugelassen. Im Jahre 90 v. Chr. siegte Antipatros aus Kreta im Musikwettbewerb von Delphi. Er bekam als Preis eine Bronzefigur, eine Inschrift am Tempel von Delphi und das Vorrecht, bei Orakelbefragungen bevorzugt behandelt zu werden. Diese verliehenen Privilegien zeigen, wie sehr das Orgelspiel bereits geschätzt wurde!
Vielleicht wäre auch heute dem olympischen Gedanken mit Disziplinen wie Dichtkunst oder Musik mehr gedient, als mit sportlichen Wettkämpfen, bei denen das geschicktere Doping oder die effizientere High-Tech-Ausrüstung siegentscheidend sind. Zumindest in der Eröffnungsfeier haben immer noch Reste dieses antik-olympischen Verständnisses überlebt.
Leider konnte man schon in der Antike mit friedlichen Wettkämpfen, egal ob sportlicher oder musischer Natur, keinen Blumentopf gewinnen: Während die Griechen feierten und philosophierten, entwickelte sich aus dem römischen Stadtstaat zunächst eine italienische, dann eine südeuropäische Regionalmacht, die den Griechen den Rang als führende Handelsnation im Mittelmeerraum streitig machte. Aus der ständisch organisierten Republik mit stimmberechtigten Bürgern, dem Senat und zwei gewählten Konsuln wurde eine Monarchie. Der Kaiser wurde nicht vom Volk und auch nicht vom Senat gewählt und mußte seinen Machtanspruch nicht begründen. Er entfaltete eine prunkvolle Hofhaltung und ließ sich in Stein hauen: Kaiser und Gott! Die römische Oberschicht wollte da nicht zurückstehen und umgab sich mit Musik und bildender Kunst. Griechische Skulpturen wurden eingeführt und kopiert, die griechische Religion fand Eingang in den römischen Götterkult und griechische Autoren wurden maßgebend. So war zwar die Macht römisch geworden, die Kultur jedoch griechisch geblieben. Es wurde zur Mode, die Kulturnation Griechenland zu bereisen. Wer etwas auf sich hielt, lernte Griechisch, kannte die griechischen Philosophen und verehrte neben dem römischen Jupiter auch Göttervater Zeus.

Nero importiert die griechische Orgel
So reiste im Jahr 66 n. Chr. der zu Unrecht als Tyrann verrufene, kunstinteressierte Kaiser Nero nach Griechenland und brachte den damals neuesten Typ des Pfeifeninstruments nach Rom, ein Instrument mit mehreren Registern. Nero war musikalisch ausgebildet und kündigte an, er würde, falls er den Gallieraufstand erfolgreich niederschlagen werde (67 n. Chr.), bei den Siegesfeiern selber als Orgelspieler auftreten. Unvergessen ist "Nero" Peter Ustinov im Spielfilm "Quo vadis?", wie er seine von ihm selbst verfaßten Lieder zum Besten gibt und Petronius, den "arbiter elegantiae", den Fachmann in Geschmacksfragen, um sein Urteil bittet. Doch leider ist in keinem der großen historischen Filme ("Ben Hur", "Spartacus", "Quo vadis") eine Pfeifenorgel zu sehen, weder ein kleines intarsiengeschmücktes und goldverziertes Balginstrument in den Häusern der noblen Familien, noch die kraftvoll klingende Wasserorgel im Circus Maximus. Tatsache ist dennoch, daß zu den Klängen des späteren Kircheninstruments Gladiatoren aufmarschierten, Artistinnen übers Seil tanzten und sogar Christen zum Kampf gegen Löwen antraten.
"Wenn Du einen deiner Angehörigen von Trauer niedergeschlagen siehst, willst Du ihm dann einen feinen Fisch vorsetzen oder ihn ermuntern, auf die Klänge der Wasserorgel zu hören? Willst Du ihm einen Blumenstrauß vor Augen stellen, ihm duftende Blüten unter die Nase halten oder ihm einen Kranz Rosen um den Hals legen? Willst Du ihm nicht eher ein sokratisches Buch zu lesen geben und ihn auffordern, auf die tröstlichen Worte von Platon zu hören ?"
So fragt der römische Jurist, Philosoph und Staatsmann Cicero (106 - 43 v. Chr.) in seinem "dritten Gespräch in Tusculum", erschienen 45 v. Christus. Marcus Tullius Cicero hatte 79 bis 77 v. Chr. eine Bildungsreise nach Griechenland und dem östlichen Mittelmeerraum unternommen und dort die Pfeifenorgel kennen und schätzen gelernt. Mit größter Selbstverständlichkeit reiht er daher ihre Klänge unter die orientalischen Luxusgüter ein, wie ein seltenes Parfüm oder eine erlesene Speise.
200 Jahre später vertrat Kirchenvater Justinus (103 - 168) eine Philosophie, die von den heidnischen Mythen und Götterkulten sowie von den kulturellen Gewohnheiten der Zeit gereinigt ist, um der Wahrheit des Seins den Vorrang zu geben. Die junge Kirche verabschiedete sich daher mit Entschlossenheit von diesem orientalischen Luxus, überhaupt von aller heidnischen Lebensfreude und Sinnlichkeit. Dies ging soweit, daß Justinus den Musikern nur dann die Taufe gestattete, wenn sie den Beruf wechselten. Der heilige Hieronymus riet einer vornehmen Christin, sie solle ihre Tochter ohne Kenntnis der Musikinstrumente aufwachsen lassen; "sie soll nicht wissen, wozu tibia, lyra und cythara gemacht sind." Das Konzil von Arles im Jahre 314, eigentlich einberufen, um sich mit dem Sakramentensubjektivismus der Donatisten Nordafrikas auseinanderzusetzen, exkommunizierte so nebenbei alle Schauspieler und Theaterleute, zu denen auch die Organisten und Cytharisten gehörten.

Musik beim Gottesdienst?
Die Zeiten ändern sich und so verkündete Kirchenvater Augustinus (354 - 430) schon einige Jahrzehnte später: "Wer singt betet doppelt". Doch immer wieder versuchten religiöse Eiferer mit einem Purismus, der sich auf das rein Geistige, auf Bibelwort und Gebet zu beschränken suchte, Musik als etwas sinnenfreudig-gottloses aus der Liturgie auszumerzen. Einer von ihnen war der Zürcher Reformator Huldrych Zwingli, der alle Musik aus dem Gottesdienst verbannte. Was bewog diesen Mann, der einerseits selber komponierte und mehr als ein Dutzend Instrumente spielte, der gern mit Menschen zusammen aß und trank, dem vorgeworfen wurde, er faste zu wenig, andererseits die schöne mittelalterliche Großmünsterorgel im Jahr 1527 abbrechen zu lassen? Fürchtete er die Musik als nicht zum Himmel und nicht zum Heil führend, als Störgröße für Ruhe und Ordnung in seinem "Gottesstaat"? Oder waren rein wirtschaftliche Gründe der Anlaß?
Als der römische Kaiser Konstantin im Jahre 324 das Christentum zur Staatsreligion erhob und die Hauptstadt seines Reiches von Rom nach Byzanz verlegte, das er in "Konstantinopel" (heute: Istanbul) umbenannte, hatte man jedenfalls vor dem Orgelspiel keine Scheu. Es erklang, wenn der Kaiser speiste, wenn er Audienz hielt, wenn er beim Pferderennen vor die Öffentlichkeit trat. Die Pfeifenorgel war obligates Instrument für die "Akklamationen", bei denen sich der Kaiser als Verkörperung des Staates verehren ließ. Orgelspiel erklang zu Ehren des Staates und des Kaisers, der seine Würde aus Gottes Hand empfangen hatte und diese Würde in einem feierlichen Zeremoniell zum Ausdruck brachte.
Rom blieb einstweilen noch heidnisch geprägt, während Byzanz bzw. Konstantinopel zum ersten christlichen Zentrum heranwuchs. Sprache und Kultur waren griechisch, und entsprechend griechischer Lebensauffassung wurden Kunst und Wissenschaft intensiv gepflegt. Bildhauer und Dichter, Maler, Naturwissenschafter und Philosophen arbeiteten am byzantinischen Hof.
Das Instrument wurde unter den oströmischen Kaisern zwar nicht technisch weiter entwickelt, wohl aber prunkvoll ausgestattet. Beispielsweise ließ Kaiser Theophilus (829-842) zwei große Orgeln in Gold bauen und mit Edelsteinen besetzen. Diese Orgeln sowie ein goldener Baum mit singenden Vögeln waren so wertvoll, daß der Sohn sie einschmelzen ließ und daraus Münzen prägte, um den Sold für Beamte und Soldaten zu zahlen (Michael III., von 842 bis 867 Kaiser, genannt "der Trunkenbold"). Unter Kaiser Konstantin VII. (944-959) gab es sogar vier Orgeln am Hof, zwei goldene für den Herrscher persönlich und je eine silberne für "die blaue" und "die grüne" Partei.


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